Die Religionen legen – oder legten – uns teilweise nahe, das Diesseits sei nicht wichtig, es sei nur Mittel zum Zweck für das Jenseits. Dementsprechend werden – oder wurden – diesseitige Genüsse und Lebensfreude manchmal regelrecht „verteufelt“.
Doch warum bietet uns die Welt so viel Schönes und Erfreuliches, wenn wir es missachten sollen? Alles nur, um uns in Versuchung zu führen und unsere Standhaftigkeit zu prüfen? Was ist denn Böses daran, das, was uns geschenkt wird, mit Freude anzunehmen und es zu geniessen?
In den östlichen Religionen und spirituellen Wegen wird die Welt manchmal als „Illusion“ (Sanskrit: Maya) bezeichnet, und es wird gefordert, uns von ihr zurückzuziehen und die „Wirklichkeit“ (das Göttliche) zu suchen.
Alles hängt aber an der Definition von „Illusion“. Verstehen wir darunter, dass das Leben wie ein Traum ist, zeitweise ein Alptraum, so ist die logische Konsequenz, dass wir aufwachen und in die paradiesische Wirklichkeit zurückkehren wollen – durch das Transzendieren dieser Welt.
Das ist der Weg des Buddha, in einem Satz zusammengefasst: Alles Leben ist Leiden, weshalb wir die Illusion unseres Ego und den Kreislauf der irdischen Wiedergeburten aufheben und ins Nirwana gelangen müssen. Dabei verlasse ich als Individuum die Welt, überlasse sie ihrem Schicksal mit all dem Leiden (das für jeden Menschen, der „darin steckt“ keine Illusion, sondern schmerzhafte Wirklichkeit ist!). Die Welt ändert sich nicht dadurch, dass ich ihr entfliehe.*
Unter Illusion können wir jedoch auch Folgendes verstehen: Es gibt ein Göttliches, das sich in der Materie, in allem Existierenden und somit auch in uns Menschen entfaltet hat (Schöpfungsakt). Die Welt, das Universum und alle Ereignisse in Raum und Zeit sind absolut wirklich – unsere Illusion liegt darin, dass wir uns als vom Göttlichen getrennt wähnen, wir haben sozusagen „vergessen“, dass wir ein Teil des Göttlichen sind.
Anders ausgedrückt: Alles ist Eins, es gibt nichts ausser dem Göttlichen. Die Schöpfung ist das Spiel des Göttlichen mit sich selbst. Unser Ziel ist dann, uns dieser Einheit wieder bewusst zu werden – trotz oder gerade durch unser Wirken in dieser Welt. Betrachten wir alles, die ganze Schöpfung, als einen Teil des Göttlichen und nicht getrennt von uns selbst, so ist die logische Konsequenz, dass wir uns an der Welt erfreuen und auch an unserem Weg durch die „Lebensschule“, die der Wiederentdeckung unserer wahren Identität dient, mit all dem Schönen, was uns geschenkt wird, und all den Prüfungen und Stolpersteinen. Dabei ändern wir uns selbst in dieser Welt und dadurch verändern wir auch die Welt: Ich als Individuum bin zwar nur ein winzig kleiner Teil davon, doch wenn ich bewusster werde, wird die Welt als Ganzes ein klein wenig bewusster – mit jeder Blüte, die sich an einem Strauch öffnet, verschönert sich der ganze Strauch…
Welchem dieser (oder weiterer) Modelle wir folgen wollen, müssen wir in uns selbst erspüren – denn „Modelle“ sind sie alle, Erklärungsmodelle, die unser begrenztes menschliches Gehirn versteht. Das Göttliche ist weit mehr, als wir uns vorstellen können! Zudem ist unsere Wahl oder Entscheidung nicht so bedeutsam, wie es von den Religionen und Glaubensrichtungen gerne dargestellt wird: Alle Wege führen zum Absoluten, kein Wesen ist davon ausgeschlossen, egal welchen Pfad es beschreitet, und jedes Wesen wird zu seiner Einheit mit dem Göttlichen geführt, entwickle es sich bewusst (gewollt) oder durch den Kosmischen Plan getrieben. Wie Teilhard de Chardin sagte: „Eher hört die Erde auf sich zu drehen, als dass die Menschheit aufhört, sich auf eine Einheit hin zu entwickeln.“
*Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass nicht alle buddhistischen Wege diese radikale individualistische Lösung befürworten; es gibt auch Richtungen, in welchen die Erlösung aller Wesen das Ziel ist und „Erleuchtete“ freiwillig immer wieder auf der Welt geboren werden, um dabei zu helfen.
Artikel teilen auf: