Sünden

Eine Nonne erklärte mir als Kind – im katholischen Italien der frühen 1960-er Jahre: „Jede Sünde, die du begehst, sei sie noch so klein, ist wie ein schwarzer Fleck auf deiner Seele. Bei einer Todsünde wird die ganze Seele mit einem Mal schwarz.“
Ich weiss nicht mehr warum, aber die Seele stellte ich mir in etwa so gross wie das Herz vor, und auch genau in Herzform. Deshalb fragte ich: „Und was passiert, wenn die Seele ganz schwarz wird, weil so viele Flecken darauf sind, dass es gar nichts mehr Weisses gibt? Kann der liebe Gott dann noch unterscheiden, ob es eine Todsünde war oder viele kleinen Sünden?“ Das spielte nämlich eine Rolle: Starb man mit einer Todsünde, kam man direkt in die Hölle, während die kleineren Sünden, und seien es noch so viele, nur ins Fegefeuer führten.
Die Nonne blieb mir die Antwort schuldig.

Sünden – sie spielten in meiner Kindheit eine grosse Rolle. Jeden Samstag mussten wir zur Beichte… und was hatten wir Kinder schon zu beichten?! Ich habe gelogen, ich war ungehorsam… Woche für Woche zermarterte ich mir das Hirn, was ich denn beichten sollte; ich dachte, der Pfarrer müsse doch hie und da einmal etwas Neues zu hören bekommen, nicht immer die gleichen Sünden.

Heute habe ich ein anderes Konzept der Sünde. Ich betrachte „die Sünde“ als eine Metapher für einen Fehltritt, durch den ich mich von meinem höheren Selbst entferne.
Es stellt sich dann natürlich die Frage, was ein „Fehltritt“ ist. Grundsätzlich wohl jedes Verhalten, in das wir vom Ego getrieben werden. Aber entgegen der katholischen und moralischen Doktrin, die sich an die Regel hält „Unwissenheit schützt nicht vor Strafe“, bin ich davon überzeugt, dass wir nur dann „sündigen“, wenn wir bewusst und willentlich einen Fehltritt begehen.
Selbst dann „sündigen“ wir ja noch oft genug!

Betrachten wir es ganz nüchtern, so scheint es unbegreiflich, dass wir bewusst etwas Unrechtes tun. The Mother, die spirituelle Weggefährtin des indischen Philosophen und Mystikers Sri Aurobindo, sagte einmal: „[…] einen Fehler zu machen, von dem man weiss, dass es ein Fehler ist, das scheint mir abstrus! […] ich habe es bisher nicht geschafft, das zu verstehen. Es scheint mir – es scheint mir unmöglich. Falsche Gedanken, falsche Impulse, innere und äussere Unredlichkeit, hässliche, nie­derträchtige Dinge: So lange man sie aus Unwissenheit tut – Unwissenheit ist da in der Welt –, versteht man das […] Aber sobald die Erkenntnis vorhanden ist […] wie kann man es je wieder tun? Das verstehe ich nicht!“
Ich selbst verstehe es hingegen nur allzu gut! Immer wieder tun wir Dinge, von denen wir genau wissen, dass sie nicht richtig sind. Unser Ego ist eben oft sehr stark, unsere Willenskraft schwach. Das Göttliche weiss das aber und verzeiht es uns. Keine Sünde führt uns in die „Hölle“, ausser in diejenige, die wir uns durch unsere Selbstvorwürfe und Schuldgefühle selber schaffen.

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