Die Welt als Illusion?

Optische Täuschungen haben mich seit jeher fasziniert, und in den letzten Wochen hatte ich anlässlich eines Vorlesungszyklus über unsere Wahrnehmung die Gelegenheit, einige zu sehen (ihr findet zwei Beispiele im Text auf meiner Selbstliebe-Website).
Ist die Welt tatsächlich so, wie wir sie sehen? Gibt es überhaupt eine objektive Realität? Farben etwa sind ja nichts anderes als elektromagnetische Wellen verschiedener Länge – wer kann sagen, ob das, was ich als rot sehe, von jedem Menschen gleich gesehen wird? Dass beispielsweise Insekten Farben anders sehen, auch einen anderen Bereich des Farbspektrums, wissen wir.

Es ist unser Gehirn, das aus allen Sinnesreizen gewissermassen eine individuelle Abbildung herstellt, wobei es die Wirklichkeit nach den bereits gemachten eigenen Erfahrungen interpretiert: Haben wir beispielsweise in unserem Leben schon öfters Vögel am Himmel gesehen, aber noch nie etwas von Flugzeugen gehört, so werden wir das kleine Ding, das wir weit, weit oben sehen, als Vogel erkennen.
Zudem ist unsere Wahrnehmung selektiv, je nach unseren gegenwärtigen Bedürfnissen und Motivation: Wenn wir etwa hungrig sind, während wir eine Strasse entlang gehen, sehen wir jedes Restaurant und jeden Lebensmittelladen, hingegen beachten wir Schmuckgeschäfte kaum. Es gibt ein nettes Experiment, das ihr selber machen könnt, um zu erkennen, dass wir nur wahrnehmen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten.

Im Hinduismus spricht man auch davon, dass die ganze erfahrbare Manifestation des Göttlichen, die wir Schöpfung nennen, nichts als eine Illusion sei (Sanskrit: Maya). Es gibt nur eines, das Göttliche (Sanskrit: Brahman). Allerdings sind wir uns dessen nicht bewusst, und der Sinn des Lebens ist das „Erwachen“ und Erkennen der Wahrheit.

Legt die Vorstellung, die Welt sei eine Illusion, also nahe, uns von ihr zurückzuziehen und ausschliesslich die „Wirklichkeit“ zu suchen?
Alles hängt von unserer Definition von Illusion ab. Verstehen wir darunter, dass das Leben wie ein Traum ist, zeitweise ein Albtraum, so ist die logische Konsequenz, dass wir aufwachen und in die paradiesische Wirklichkeit zurückkehren wollen. Das ist der Weg des Buddha, in einem Satz zusammengefasst: Alles Leben ist Leiden, weshalb wir die Illusion unseres Ego und den Kreislauf der irdischen Wieder­geburten aufheben und ins Nirwana gelangen müssen.

Unter Illusion können wir jedoch auch Folgendes verstehen: Es gibt ein Gött­liches, das sich in der Materie, in allem Existierenden und somit auch in uns Menschen entfaltet hat (beim Urknall im naturwissenschaftlichen Sinn, beim Schöpfungsakt im religiösen Sinn); die Welt, das Universum und alle Ereignisse in Raum und Zeit sind absolut wirklich – unsere Illusion liegt darin, dass wir uns als vom Göttlichen getrennt wähnen, wir haben sozusagen „vergessen“, dass wir ein Teil des Göttlichen sind.
Anders ausgedrückt: Alles ist Eins, es gibt nichts ausser dem Göttlichen. Die Schöpfung ist das Spiel des Göttlichen mit sich selbst. Unser Ziel ist dann, uns dieser Einheit wieder bewusst zu werden – trotz oder gerade durch unser Wirken in dieser Welt. Betrachten wir alles, die ganze Schöpfung, als einen Teil des Göttlichen und nicht getrennt von uns selbst, so ist die logische Konsequenz, dass wir uns an der Welt erfreuen und auch an unserem Weg durch die „Lebensschule“, die der Wiederentdeckung unserer wahren Identität dient, mit all dem Schönen, das uns geschenkt wird, und all den Prüfungen und Stolpersteinen.
Dabei ändern wir uns selbst in dieser Welt und dadurch ver­ändern wir auch die Welt: Ich als Individuum bin zwar nur ein winzig kleiner Teil davon, doch wenn ich bewusster werde, wird die Welt als Ganzes ein klein wenig bewusster – mit jeder Blüte, die sich an einem Strauch öffnet, verschönert sich der ganze Strauch…

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