Schönreden und Ehrlichkeit gegenüber sich selbst

Euphemismen* kennen wir vor allem aus Politik und Wirtschaft; sie werden verwendet, um die öffentliche Meinung zu manipulieren. Man spricht beispielsweise von „Kollateralschaden“ eines kriegerischen Angriffs – und meint zivile Opfer. Oder, noch schlimmer, von „ethnischer Säuberung“ für Völkermord. Man sagt „Minuswachstum“ für Rezession oder „negativer Gewinnbeitrag“ für Verlust und „Nachrichtendienst“ für Spionage.
Aber auch im alltäglichen Leben gehören solche Beschönigungen zum normalen Sprachgebrauch: einschlafen statt sterben, beleibt statt dick, Allerwertester für Po. Die meisten Euphemismen sind schon lange so gängig, dass wir uns der Rosafärbung gar nicht mehr bewusst sind.

Neulich sagte mir ein Bekannter, dessen dritte Ehe gerade in die Brüche gegangen war, er sei wohl „beziehungsunfähig“. Ich bezweifle es allerdings, ich betrachte dieses psychologische Modewort in seinem Fall als Euphemismus. In meinen Augen ist er schlicht zu egoistisch: Er hat immer sein eigenes Süppchen gekocht (um einen weiteren Euphemismus zu verwenden). Seine vielen Hobbies, neben dem anspruchsvollen Beruf, liessen ihm kaum je Zeit, sich tiefer auf seine Frauen einzulassen, geschweige denn die Partnerbeziehung zu pflegen. Ich habe ihn vorsichtig darauf angesprochen, doch er hat abwehrend reagiert.

Wie gerne reden wir uns doch unsere eigenen Unzulänglichkeiten schön! In meinen Büchern und Schriften weise ich immer wieder darauf hin, wie wichtig es ist, ehrlich zu uns selbst zu sein, wollen wir uns ändern, innerlich wachsen, bessere – und damit glücklichere – Menschen werden.
Wir müssen achtsam sein, uns objektiv anschauen, so objektiv als beträfe es einen anderen Menschen. Dabei jedoch unbedingt vermeiden, uns für unsere Unzulänglichkeiten zu verurteilen, uns für Versager zu halten, an uns zu zweifeln und uns selbst dafür zu bestrafen. Und es darf keinesfalls unser Selbstwertgefühl tangieren: Egal wie wir sind, egal was wir tun, wir sind immer wertvoll als menschliche Wesen, als göttliche Seelen. Aber wir sind nicht vollkommen, das dürfen wir uns eingestehen – und daran arbeiten, es irgendwann zu sein, das ist unsere Aufgabe in der Lebensschule.

* aus dem Griechischen: eu = schön, phemein = reden, sagen

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