Meine Ichs

Die Vorgeschichte. Marrons glacés sind meine allerliebste Süssigkeit. Als Kind bekam ich immer zu Weihnachten eine Schachtel, zwölf Stück waren darin. (Danach das ganze Jahr keine mehr – damals gab es sie in Italien auch nur im Winter zu kaufen.) Sie hielten nie lange, ich verschlang sie jeweils alle in zwei, drei Tagen.

Später, als Erwachsene, vergass ich sie irgendwann, bis ich sie vor ein paar Jahren wiederentdeckte, weil es sie inzwischen sogar in meinem Supermarkt zu kaufen gibt.
In einer Schachtel hat es immer noch zwölf Stück und ich würde sie immer noch am liebsten alle auf einmal essen. Eine Zucker- und Kalorienbombe!

Anfang November sah ich, wie sie im Supermarkt die Weihnachtsleckereien auftürmten, natürlich auch die Marrons glacés. 
Mein Vernunft-Ich sagte: „Nein, nicht schon im November. Ich kaufe erst im Dezember die erste Schachtel und esse dann jeden Tag nur ein Stück zum Kaffee.“

Gestern Morgen – Mitte November – beim Einkauf im Supermarkt sagte mein Verführer-Ich: „Ach was, warum soll ich mir die Freude versagen? Ich kaufe eine Schachtel und esse wirklich nur ein Stück pro Tag.“
Ich kaufte eine Schachtel.

Gestern Mittag beim Kaffee sagte mein Nasch-Ich nach dem ersten Marron glacé: „Himmlisch! Es sind die ersten dieses Jahr, ich esse noch eins. Ab morgen dann wirklich nur noch eines pro Tag.“
Gestern Abend war die Schachtel halb leer. Und ich befürchte, heute Abend wird sie ganz leer sein.

Sagen wir „Ich“, so empfinden wir uns ja als eine Einheit, ein Einziges. In Wirklichkeit sind wir aber nicht die Einheit, für die wir uns halten, das erfahren wir immer wieder in Situationen wie in meiner Marrons-glacés-Geschichte. Eines unserer Ichs will etwas, nimmt sich etwas vor – und ein anderes wirft die Pläne, die Entscheidung über den Haufen, weil es etwas anderes will. Dazu hat P. D. Ouspensky aus seinen sufistischen, theosophischen und psychologischen Grundlagen eine eigene Theorie entwickelt:

„Der Mensch ist eine Maschine. Er hat keine unabhängigen Bewegungen, weder äußerlich noch innerlich. Er ist eine Maschine, angetrieben von äußeren Einflüssen und von äußeren Anstößen. […] Vor allem soll der Mensch wissen, dass er nicht eine Einheit ist – er ist eine Vielheit […] Dadurch, dass er stets die gleichen physischen Empfindungen hat, sich immer beim gleichen Namen rufen hört und sich in Gewohnheiten und Neigungen wiederfindet, die er immer gekannt hat, bildet er sich ein, stets derselbe zu sein. In Wirklichkeit ist keine Einheit im Menschen, es gibt weder ein alleiniges Befehlszentrum noch ein bleibendes ‘Ich’ oder Ego. […] Alle Gedanken, jedes Gefühl, jede Empfindung, jeder Wunsch, jedes ‘ich mag’ oder ‘ich mag nicht’ ist ein ‘Ich’. Diese ‘Ichs’ sind untereinander nicht verbunden noch irgendwie koordiniert […] Einige ‘Ichs’ folgen anderen ganz mechanisch, einige erscheinen immer von anderen begleitet, aber darin liegt weder Ordnung noch System.“

Nach Ouspensky sind wir uns selten unserer selbst bewusst, vielmehr läuft alles automatisch ab. Daraus folgt: Wir müssen uns wieder „selbst-erinnern“, uns unserer selbst in jedem Augenblick bewusst sein. Versuchen wir beispielsweise, den Zeiger einer Uhr zu beobachten und uns gleichzeitig bewusst zu sein, dass wir es sind, die dies tun, so schaffen wir das keine zwei Minuten lang. Ganz schnell verlieren wir die bewusste Empfindung wieder, dass wir da sind. Als Instrument, um diese Selbst-Bewusstheit und damit ein Einheits-Ich zu erlangen, sieht Ouspensky die Selbst­beobachtung. Für ein großes Hindernis hält er die Identifikation: Wir identifizieren uns ständig mit allem, was wir sa­gen, wissen, denken, mit unseren Wünschen, mit Geliebtem und Verhasstem – doch das alles sind nur verschiedene Ichs in uns, es ist nicht das wahre Ich (die Seele). Diese Identifikation hindert uns also am Selbst-Beobachten und folglich am Selbst-Erinnern, und wir müssen sie aufgeben, wollen wir unser wahres Selbst finden.

Achtsamkeit – in jedem Augenblick. Dann fällt es uns auch leichter, Versuchungen zu widerstehen und unserem weisen Ich zu folgen.

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