Besitz = Leiden?

Ein Bild aus dem Buddhismus, das wir alle kennen, ist der besitzlose Bettelmönch. Dieses Armutsgelübde gibt es auch bei christlichen Orden.
Viele religiöse Traditionen und spirituelle Wege betrachten den Besitz als eines der grossen Hindernisse zur Glückseligkeit, als etwas, was Leiden verursacht. Nicht zu Unrecht, ist es doch sehr, sehr schwierig, nicht an Besitz zu haften und sich Besitz nicht zu wünschen oder seinen Verlust nicht zu fürchten.
Doch das ist der springende Punkt: Nicht der Besitz selbst ist das Problem, sondern unsere Anhaftung an ihn. Es ist für die meisten Menschen leichter, ganz auf etwas zu verzichten, als massvoll zu geniessen: Ein bisschen schreit immer gleich nach mehr!
Man könnte also auch sagen: Die grössere Leistung ist es, zu besitzen und zu geniessen, ohne den Verlust zu fürchten, als von vornherein auf alles zu verzichten und sich somit nicht um den Verlust sorgen zu müssen! Das bedeutet: Ich darf mir ohne zu zögern ein schönes Auto kaufen, wenn ich es mir finanziell leisten kann und mich an ihm erfreue – sofern es mir ehrlich nichts ausmacht, es vielleicht morgen schon nicht mehr zu besitzen und wieder mit der Bahn zu fahren. Ich darf eine Beziehung mit einem geliebten Menschen eingehen, eine Familie gründen – sofern ich bereit bin, auch allein zu leben, und dem geliebten Menschen zugestehe, jederzeit von mir zu gehen und ohne mich glücklich zu sein.

Wünsche und Anhaftung sind urmenschlich: Wie könnten wir lernen, mit ihnen umzugehen und sie loszuwerden, wenn wir nie etwas besitzen?
Das wäre als ob wir das Schwimmen erlernen wollten, ohne je ins Wasser zu springen…

Diese Grenze, nicht an Irdischem zu hängen und doch alles auf dieser Welt zu geniessen, ist allerdings schwer zu ziehen. Es ist eine Gratwanderung.
Denn solange ich etwas besitze und geniesse, ist es einfach mir einzureden, dass ich es kein bisschen vermissen würde, wäre es nicht mehr da! Dennoch ist es eine brauchbare Methode, sich jeweils zu fragen: „Würde es mir fehlen, wenn ich es nicht mehr hätte?“
Ferner sollten wir sofort an Anhaftung denken, wenn wir etwas „übertrieben“ geniessen, also einen Besitz oder Genuss verherrlichen (man hört manchmal Menschen völlig hingerissen von einer Speise, einer Reise, einem Erlebnis schwärmen). Auch Aussagen wie „Ich kann mir nicht vorstellen, ohne sie zu leben“, „Dieses Ding ist mir sehr, sehr wichtig“, „Das möchte ich nicht missen“ – Aussagen, die oft „nur so dahergesagt“ scheinen – lassen Anhaftung vermuten und sind bewusst zu hinterfragen und zu vermeiden.
Im Übrigen sollten wir uns ehrlich bemühen, uns aber nicht verurteilen und nicht verzweifeln, wenn wir nicht immer klar sehen oder feststellen müssen, dass wir uns getäuscht haben: Es lehrt uns ja das Leben… indem es uns Dinge und Menschen nimmt, an denen wir hängen, und uns so immer wieder vor Augen führt, wie stark unsere Anhaftung noch ist, und uns die Chance bietet, weiter an uns zu arbeiten.

Dazu noch eine Geschichte aus Indien.

Der Asket und das Reh
Der weise König Bharata betete eines Morgens am Ufer des Flusses, als eine trächtige Rehgeiss, die gerade ihren Durst stillte, ob dem Gebrüll eines nahen Löwen so erschrak, dass sie ins Wasser fiel und da ihr Junges gebar. Sie schaffte es dann mit letzter Kraft ans Ufer, wo sie vor Erschöpfung starb.
Bharata sah das mutterlose Rehkitz im Strom treiben; mutig stürzte er sich hinein und rettete es. Er nahm es mit in seine Waldeinsiedelei, fütterte es, beschützte es gegen die wilden Tiere, streichelte und tröstete es, wenn es weinte. Trotz seiner spirituellen Pflichten, fand er immer genügend Zeit für das Kitz. Er sagte sich: „Dieses hilflose Tier ist mir von Gott selbst gesandt worden, damit ich es grossziehe und beschütze. Das ist ein Gebot der Barmherzigkeit einem leidenden Geschöpf gegenüber.“
Er verbrachte mehr und mehr Zeit mit dem Kitz, er spielte, unternahm Spaziergänge und ass mit ihm; es schlief sogar an seiner Seite. Der Einsiedler empfand grosse Liebe für das Junge, das er gerettet hatte. Mit der Zeit hing er so sehr an ihm, dass er ständig in Sorge war, es könnte ihm etwas zustossen, wenn er einmal einen Augenblick lang nicht aufpasste; er dachte den ganzen Tag an nichts anderes mehr als an das Wohlergehen seines Tieres.
Als Bharatas Ende schliesslich nahte und er im Sterben lag, zog sein ganzes Leben vor seinem geistigen Auge vorbei. Er sah und war tief betroffen. „Meine Frau, meine Familie, mein Königreich habe ich verlassen“, klagte er, „damit ich in dieser Waldeinsiedelei von allen Anhaftungen frei werde – und bin hier der Anhaftung an ein Rehkitz verfallen…“

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Der „heilige Mann“ und der Sünder

Wieder einmal eine Geschichte aus dem alten Indien. Viel Freude beim Lesen!

Gott schickte den heiligen Narada zur Erde, um fromme Menschen aufzusuchen. Als erstes begegnete er einem alten Asketen; dieser erzählte ihm, nicht ohne Bitterkeit, er hätte 80 Jahre lang die strengsten Praktiken und härteste Selbstdisziplin ausgeübt, aber ohne besonderen Erfolg. Als Narada ihm eröffnete, er sei ein Bote Gottes, sagte ihm der Asket: „Wenn du also Gott das nächste Mal siehst, frag ihn, warum er mich trotz meines frommen Lebens bis jetzt nicht erhört hat.“ Narada versprach es ihm und ging weiter.
Er rastete an einem Ort, wo ein junger Mann versuchte einen Zaun zu bauen; er war aber stockbetrunken und fluchte, weil es ihm nicht gelang, die Pfähle in die Erdlöcher zu rammen. Narada bot ihm seine Hilfe an, aber der Betrunkene erwiderte, er werde nur die persönliche Hilfe Gottes annehmen, seines Freundes, der Verstecken mit ihm spiele und sich davor drücke, ihm bei der Arbeit zu helfen! Narada war empört über diese Gotteslästerung und gab sich zu erkennen. Da forderte der junge Mann ihn auf, Gott zu fragen, warum er ihn bisher nicht besucht habe, obwohl er doch schon so lange auf ihn warte.
Nachdem Narada zu Gott zurückgekehrt war, erzählte er ihm, was er mit dem Asketen und dem Betrunkenen erlebt hatte. Gott, der die beiden natürlich kannte, äusserte sich liebevoll über den jungen Mann und bekräftigte seine Weigerung, sich dem Asketen zu zeigen. Narada wunderte sich sehr darüber.
Um ihm zu beweisen, wer von den beiden der wahre Suchende sei, schickte Gott Narada nochmals auf die Erde und trug ihm auf, beiden folgende Botschaft zu überbringen: „Gott ist momentan damit beschäftigt, Millionen von Elefanten durch Nadelöhren zu zwängen. Aber wenn er damit fertig ist, wird er dich besuchen.“
Narada überbrachte die Nachricht zuerst dem Asketen. Dieser erzürnte sehr und schrie: „So ein Blödsinn, Elefanten durch Nadelöhren zwängen! Ihr macht euch nur über mich lustig und er wird nie zu mir kommen – oder vielleicht gibt es gar keinen Gott und ich habe mein Leben mit Busse und Enthaltsamkeit verschwendet!“ Er warf alles hin und machte sich auf, die versäumten Genüsse des Lebens nachzuholen.
Narada war schockiert und beeilte sich, den jungen Mann aufzusuchen und ihn mit der gleichen Botschaft zu konfrontieren. Als dieser Gottes seltsame Aussage hörte, machte er Luftsprünge vor Freude und rief: „Gott hat mich erhört, er wird zu mir kommen! Was hat es schon zu bedeuten, dass er Millionen von Elefanten durch Nadelöhren zwängt: Mit Seiner Allmacht kann er das in einer Sekunde tun! Und dauerte es auch eine Ewigkeit, sein Versprechen genügt mir: Er wird zu mir kommen, irgendwann!“

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Nichts (mehr) zu verlieren

Der alte Song, den ich lange nicht mehr gehört hatte, ist mir heute plötzlich in den Sinn gekommen, nur der Refrain, genauer gesagt, nur eine Zeile:
Freedom ’s just another word for nothing left to lose…
(Freiheit ist nur ein anderes Wort für „nichts mehr zu verlieren haben“…)

Nichts zu verlieren… haben wir, wenn wir nichts besitzen. Es gibt in der Tat Menschen, die dem Besitz bewusst abschwören und sich dadurch frei fühlen.
Können wir uns denn nicht frei fühlen, solange wir noch Besitz haben? Es gibt dazu eine hübsche Geschichte aus dem alten Indien.

Shuka Deva, ein junger Mann, der auf dem spirituellen Pfad schon weit voran geschritten war, suchte einen Guru (spiritueller Lehrer), der ihn zur letzten Wahrheit leiten sollte. Sein Vater riet ihm, zu König Janaka zu gehen. Als Shuka Deva in den Palast kam, fand er den König auf einem prunkvollen goldenen Thron sitzend und eine Wasserpfeife rauchend, umringt von spärlich bekleideten Frauen mit grossen Fächern aus Palmblättern. Shuka Deva war schockiert und konnte sich nicht erklären, dass sein Vater ihm diesen weltlichen Mann als spirituellen Lehrer empfohlen hatte.
Er wollte den Palast gleich wieder verlassen, aber Janaka rief ihn zurück und bat ihn, bei ihm Platz zu nehmen, während er alle anderen wegschickte. Sie begannen ein tiefes Gespräch über Gott. Nach vier Stunden fühlte sich Shuka Deva langsam müde und hungrig, doch er wagte es nicht, das heilige Gespräch zu unterbrechen.
Nach weiteren Stunden kamen zwei Boten und riefen: „Majestät, die ganze Stadt ist in Flammen und sie haben schon den Palast erreicht! Flieht!“
Der König antwortete: „Ich bin gerade im göttlichem Gespräch mit meinem Freund. Geht und versucht, das Feuer zu löschen.“
Shuka Deva verstand die Haltung des Königs nicht, doch er versuchte ebenso ruhig zu bleiben. Nach einer Weile kamen die beiden Boten wieder: „Das Feuer dringt weiter vor, Eure Gemächer brennen lichterloh, bald ist es beim Thron angelangt! Wenn Ihr jetzt nicht flieht, werdet Ihr verbrennen!“
Der König antwortete: „Bringt ihr beide euch in Sicherheit. Ich fühle mich in den Armen des beschützenden Gottes viel zu sicher, um vor dem Feuer Angst zu haben.“
Die beiden Boten flohen. Die Flammen frassen sich bereits durch den Stapel Bücher, der neben Shuka Deva stand, und er verlor seine Beherrschung. Er sprang auf und versuchte seine wertvollen Bücher zu retten.
König Janaka lächelte. Er machte ein Handzeichen und auf wundersame Weise verschwand das Feuer. Er sagte zum jungen Mann: „Du hieltest mich für einen dem Weltlichen verhafteten Herrscher. Doch sieh dich an! Du hast den beschützenden Gott vergessen, um einen Stapel Bücher zu beschützen, während ich mich nicht um meinen brennenden Palast kümmerte. Gott hat dieses Wunder bewirkt, um dir zu zeigen, dass du, obwohl du dich ein Entsagender nennst, mehr an deinen Büchern hängst als an Gott – oder als ich an meinem Palast, obwohl ich im Prunk lebe anstatt in einer Einsiedelei.“

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Die Welt – Illusion, Traum oder Wirklichkeit?

Die Religionen legen – oder legten – uns teilweise nahe, das Diesseits sei nicht wichtig, es sei nur Mittel zum Zweck für das Jenseits. Dementsprechend werden – oder wurden – diesseitige Genüsse und Lebensfreude manchmal regelrecht „verteufelt“.
Doch warum bietet uns die Welt so viel Schönes und Erfreuliches, wenn wir es missachten sollen? Alles nur, um uns in Versuchung zu führen und unsere Standhaftigkeit zu prüfen? Was ist denn Böses daran, das, was uns geschenkt wird, mit Freude anzunehmen und es zu geniessen?

In den östlichen Religionen und spirituellen Wegen wird die Welt manchmal als „Illusion“ (Sanskrit: Maya) bezeichnet, und es wird gefordert, uns von ihr zurückzuziehen und die „Wirklichkeit“ (das Göttliche) zu suchen.
Alles hängt aber an der Definition von „Illusion“. Verstehen wir darunter, dass das Leben wie ein Traum ist, zeitweise ein Alptraum, so ist die logische Konsequenz, dass wir aufwachen und in die paradiesische Wirklichkeit zurückkehren wollen – durch das Transzendieren dieser Welt.
Das ist der Weg des Buddha, in einem Satz zusammengefasst: Alles Leben ist Leiden, weshalb wir die Illusion unseres Ego und den Kreislauf der irdischen Wiedergeburten aufheben und ins Nirwana gelangen müssen. Dabei verlasse ich als Individuum die Welt, überlasse sie ihrem Schicksal mit all dem Leiden (das für jeden Menschen, der „darin steckt“ keine Illusion, sondern schmerzhafte Wirklichkeit ist!). Die Welt ändert sich nicht dadurch, dass ich ihr entfliehe.*

Unter Illusion können wir jedoch auch Folgendes verstehen: Es gibt ein Göttliches, das sich in der Materie, in allem Existierenden und somit auch in uns Menschen entfaltet hat (Schöpfungsakt). Die Welt, das Universum und alle Ereignisse in Raum und Zeit sind absolut wirklich – unsere Illusion liegt darin, dass wir uns als vom Göttlichen getrennt wähnen, wir haben sozusagen „vergessen“, dass wir ein Teil des Göttlichen sind.
Anders ausgedrückt: Alles ist Eins, es gibt nichts ausser dem Göttlichen. Die Schöpfung ist das Spiel des Göttlichen mit sich selbst. Unser Ziel ist dann, uns dieser Einheit wieder bewusst zu werden – trotz oder gerade durch unser Wirken in dieser Welt. Betrachten wir alles, die ganze Schöpfung, als einen Teil des Göttlichen und nicht getrennt von uns selbst, so ist die logische Konsequenz, dass wir uns an der Welt erfreuen und auch an unserem Weg durch die „Lebensschule“, die der Wiederentdeckung unserer wahren Identität dient, mit all dem Schönen, was uns geschenkt wird, und all den Prüfungen und Stolpersteinen. Dabei ändern wir uns selbst in dieser Welt und dadurch verändern wir auch die Welt: Ich als Individuum bin zwar nur ein winzig kleiner Teil davon, doch wenn ich bewusster werde, wird die Welt als Ganzes ein klein wenig bewusster – mit jeder Blüte, die sich an einem Strauch öffnet, verschönert sich der ganze Strauch…

Welchem dieser (oder weiterer) Modelle wir folgen wollen, müssen wir in uns selbst erspüren – denn „Modelle“ sind sie alle, Erklärungsmodelle, die unser begrenztes menschliches Gehirn versteht. Das Göttliche ist weit mehr, als wir uns vorstellen können! Zudem ist unsere Wahl oder Entscheidung nicht so bedeutsam, wie es von den Religionen und Glaubensrichtungen gerne dargestellt wird: Alle Wege führen zum Absoluten, kein Wesen ist davon ausgeschlossen, egal welchen Pfad es beschreitet, und jedes Wesen wird zu seiner Einheit mit dem Göttlichen geführt, entwickle es sich bewusst (gewollt) oder durch den Kosmischen Plan getrieben. Wie Teilhard de Chardin sagte: „Eher hört die Erde auf sich zu drehen, als dass die Menschheit aufhört, sich auf eine Einheit hin zu entwickeln.“

*Der Vollständigkeit halber sei noch erwähnt, dass nicht alle buddhistischen Wege diese radikale individualistische Lösung befürworten; es gibt auch Richtungen, in welchen die Erlösung aller Wesen das Ziel ist und „Erleuchtete“ freiwillig immer wieder auf der Welt geboren werden, um dabei zu helfen.

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Askese und Selbstdisziplin

Die Sinneslust muss auf vielen spirituellen Wegen, die seit Jahrtausenden erfolgreich praktiziert werden, radikal bekämpft werden. Das gilt ganz besonders für die Sexualität, aber auch für Essen und Trinken, Besitz und jeglichen Genuss. Die Tradition der Bettelmönche beziehungsweise des Armutsgelübdes war in Ost und West seit jeher weit verbreitet und ist es immer noch.
Askese mag ein Weg zum Göttlichen sein, einer unter vielen. Aber es ist eine alte Lehre und wir dürfen uns schon fragen, ob sie in unserer westlichen Gegenwart für uns alle im Alltag noch praktizierbar ist.
Die Menschheit hat sich entwickelt, es ist ein anderes Zeitalter angebrochen – jedes Zeitalter hatte seine Propheten, die entsprechend dem menschlichen Entwicklungsstand und den äusseren Gegebenheiten das lehrten, was zu ihrer Zeit richtig war. Deshalb ist es nicht sinnvoll, alte heilige Schriften über Jahrtausende in ihrer wörtlichen Form für ewig gültig zu erklären und ihren Geboten „buchstäblich“ zu gehorchen.

Es soll asketisch leben, wer diesen Drang in sich verspürt – dann ist es sein richtiger Weg. Doch Askese als eine für alle gültige Disziplin zu betrachten, wäre engstirnig. Wenn das Göttliche gewollt hätte, dass wir uns in eine Höhle zurückziehen und allem entsagen, hätte Es dann nicht lauter Höhlen erschaffen anstelle dieser wunderschönen Welt mit all ihren Reizen und Freuden?
Vielleicht ist Askese auch bloss der Weg des geringeren Widerstands! Ziehe ich mich nämlich von allem zurück, gehe sinnlichen Genüssen aus dem Weg und lehne sie strikte ab, ist das möglicherweise einfacher, als mit Mass zu geniessen…
Zudem dürfen wir nicht nur die Taten ansehen, sondern sollten auch die Gedanken mit einbeziehen: Wenn ich ein Stück Kuchen ablehne, weil ich Askese üben will, dabei aber immer wieder daran denke und mich danach sehne, so bezeuge ich zwar eine starke Willenskraft im Verzicht, doch ich verschwende eine Menge Energie durch meine ständigen Gedanken an den Kuchen!

Wie weise ist doch die Bhagavad Gita, die schon vor über zwei Jahrtausenden sagte:

Entsagung und Karma Yoga, beide führen zur Rettung der Seele, doch von beiden steht Karma Yoga über der Entsagung.
(V, 2)

Wahrlich, dieser Yoga ist nicht für diejenigen, die zu viel essen oder zu viel schlafen, ebensowenig für diejenigen, die Schlaf und Nahrung aufgeben.
(VI, 16)

Wer die Organe des Handelns zwar beherrscht, aber in Gedanken ständig bei den Sinnesobjekten weilt, solch ein Mensch hat sich selbst getäuscht mit falschen Vorstellungen von Selbstdisziplin.
(III, 6)

Wenn jemand den Sinnesobjekten und den Werken nicht anhaftet und auch in Gedanken auf jegliches Verlangen verzichtet, dann sagt man von ihm, er sei zum Gipfel des Yoga aufgestiegen.
(VI, 4)

Entscheidend ist also nicht, auf alles zu verzichten, sondern den Genüssen nicht verhaftet zu sein: Wir dürfen geniessen, was uns gegeben wird, aber uns nicht danach sehnen oder es vermissen, wenn wir es nicht haben. Denn solange unser Verzicht für uns ein „Opfer“ darstellt, ist er wertlos: Aus Erkenntnis sollen unsere Wünsche sterben – Erkenntnis, dass alles Weltliche nicht so wichtig ist, nur das Eine zählt – und dem daraus erwachsenden Gleichmut, nicht durch erzwungene Unterdrückung.

Selbstverständlich braucht es auf jedem Lebensweg, nicht nur auf dem spirituellen, eine gesunde Portion Selbstdisziplin; diese lässt sich aber in einem Satz beschreiben: Ich tue nichts, was ich als nicht gut erkenne. Das hört sich banal an, aber denken Sie kurz darüber nach, wie oft Sie schon in einer Weise gehandelt haben, von der Sie vorher wussten, dass es „falsch“ ist!
Wir begehen viele „Fehler“ aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit, das geschieht, das ist verständlich – aber in viele laufen wir ganz bewusst und willentlich hinein…

Abschliessend aber noch eine Anmerkung zum „Fehler“, zum „falschen“ Handeln: Es gibt keine Fehler, es gibt nur Erfahrungen. Es gibt keine objektiven Fehler: Was in einer Situation gut ist, kann in einer anderen schlecht sein. Doch jede „richtige“ Tat und jede „falsche“ Tat führt uns zu Erkenntnissen – und das ist das einzige, was zählt.

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