Achtsamkeit und Nächstenliebe

Ein Mann verbrachte sein Leben in Tugend und bemühte sich immer, noch besser und weiser zu werden, damit ihm nach seinem Tod das Paradies offenstünde. Einen einzigen Makel hatte er: die Unachtsamkeit. Manchmal übersah er deshalb, wenn jemand Hilfe brauchte, oder verpasste eine Gelegenheit, eine neue Erkenntnis zu erlangen. Angesichts all seiner Tugenden meinte er, diese kleine Schwäche wiege nicht so schwer und Gott würde sie ihm be­stimmt verzeihen.
Als er nach einem erfüllten Leben starb, war er sich nach einer kurzen Gewissensprüfung sicher, ins Pa­radies eingelassen zu werden. Doch wie er dann an der Himmelspforte ankam, stellte er fest, dass sie geschlossen war. Während er sich noch darüber wunderte, hörte er eine Stim­me sagen: „Sei achtsam! Denn die Pforte öffnet sich ein einziges Mal alle hundert Jahre.“
So ließ er sich davor nieder und wartete geduldig; Geduld war nämlich eine der Tugenden, die er in seinem irdischen Leben er­worben hatte. Doch mit der Achtsamkeit hatte er seine liebe Mühe, gab es doch vor dem Paradies nichts zu sehen und zu hören, worauf er seine Aufmerksamkeit hätte richten können.
Nach einer Weile des Wartens, die ihm so lan­ge vorkam wie ein ganzes Jahrhundert, schloss er kurz die Augen. In dem Moment ging das Paradiestor auf – und noch bevor er die Au­gen wieder richtig geöffnet hat­te, schloss es sich erneut mit lautem Ge­töse.“

Mir scheint, in den letzten Jahren hat die Achtsamkeit stark nachgelassen, was teilweise bestimmt mit den allgegenwärtigen Handys zu tun hat. Die Menschen – und ich nehme mich da nicht aus, wenigstens hie und da – gehen auf der Strasse und sind mit ihrem Handy beschäftigt, sie nehmen den Verkehr nicht mehr wahr und begeben sich zuweilen sogar in Gefahr. Gerade heute habe ich gelesen, dass Honolulu (Hawaii) ein neues Gesetz verabschiedet hat, wonach man eine Geldstrafe bezahlen muss, wenn man beim Überqueren der Strasse auf das Handy schaut.

Spirituell gesehen, ist die Achtsamkeit eine wichtige Eigenschaft, ja eine unerlässliche auf unserem Weg zum Göttlichen. Wir sollen immer bei uns selbst sein, bei dem, was wir gerade tun, in der Gegenwart.
Das hat darüber hinaus auch einen ganz praktischen Nutzen für eine andere unerlässliche Eigenschaft: die Nächstenliebe, oder zumindest einmal den Respekt vor dem Nächsten. Sind wir achtsam, nehmen wir nämlich auch wahr, was um uns herum geschieht. Dann stehen wir etwa im Supermarkt nicht mehr im Weg, wenn jemand etwas aus einem Gestell nehmen möchte; wir bremsen mit dem Auto nicht mehr (fast) zu spät, wenn ein anderes Fahrzeug einmündet; auf dem schmalen Wanderweg machen wir Platz, wenn jemand uns überholen will. Zugegeben, das sind jetzt alles Beispiele aus meinem eigenen Leben, Situationen, die mir in letzter Zeit vermehrt aufgefallen sind. Ich dachte zuerst, es gehe um die zunehmende Rücksichtslosigkeit der Menschen – doch das trifft meistens nicht zu, es handelt sich nur um mangelnde Achtsamkeit.

Ich verweise im Übrigen auf einen früheren Beitrag, bei dem es konkret darum geht, wie wir die Achtsamkeit üben können.

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Über allem die Liebe

Mein neues Buch, der 3. Band der Sonnwandeln-Reihe, mit dem Titel „Über allem die Liebe“ ist soeben erschienen.

Sonnwandeln_Band_3

Über allem die Liebe
Sonnwandeln Band III
von Karin Jundt
nada Verlag
ISBN 978-3-907091-13-5
Paperback, 236 Seiten
EUR 19.00 / ca. CHF 25.00

Erhältlich in Buchhandlungen und Online-Shops.

Die göttliche Liebe trägt das Universum. Doch wie könnte sie in der Welt fliessen, wenn nicht von Wesen zu Wesen? In diesem Buch beleuchte ich Aspekte un­se­­rer unvoll­kommenen menschlichen Liebe.
Zuallererst geht es um die Selbstliebe, eine unabdingbare Voraus­setzung, wollen wir andere Menschen wahrhaftig lieben. Dann um die Liebe zu unserem Nächsten im Allgemeinen und zwischen Eltern und Kindern im Besonderen. Ein ganzes Kapitel widme ich auch der Paarbeziehung; ich zeige Wege auf zu einer dauerhafteren, glück­licheren Partnerschaft in be­din­gungsloser, uneigennütziger Liebe, jenseits von Er­war­tungen und Forderungen, Eifersucht und Verlust­angst, Macht­kämpfen und Ver­letzungen. Aber auch die leidvolle Tren­nung von geliebten Men­schen, sei es durch Verlassen oder Tod, und schliesslich die Einsamkeit sind ein wichtiges Thema.
Im Licht einer im gewöhnlichen Alltag gelebten Spiritualität stelle ich die Thematik, wie in all meinen Büchern, praxisbezogen dar und biete konkrete Empfehlungen, Anleitungen und wirksame In­stru­­men­te zur Selbst­veränderung.

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Der Tiger und der Fuchs

Eine persische Geschichte von Sa’di
Illustration: Jakob Aerne

Illustration Geschichte von Sa'di

Ein Mann war unterwegs im Wald und entdeckte einen Fuchs, der keine Beine mehr hatte. Während er sich noch wunderte, dass das Tier überhaupt überleben konnte, sah er einen Tiger mit einem gerissenen Wild. Nachdem er sich satt gefressen hatte, machte er sich davon und überliess dem Fuchs den Rest.
Der Mann staunte über die Güte Gottes und sagte sich: „Wenn der Herr den Fuchs ernährt, so wird er auch für mich sorgen.“ Er setzte sich und ruhte, viele Tage lang, aber nichts geschah. Als der Mann am Verhungern war, hörte er eine Stimme: „Du da, auf dem falschen Weg! Öffne deine Augen für die Wahrheit: Handle wie der Tiger und nimm dir nicht den behinderten Fuchs zum Vorbild!“
So erhob sich der Mann und ging seinen Weg. Bald begegnete er einem frierenden kleinen Mädchen, es zitterte in seinem dünnen Kleid und sah hungrig und hoffnungslos aus. Zornig rief der Mann zu Gott: „Warum lässt du das zu? Warum tust du nichts dagegen?“
Eine ganze Weile schwieg Gott. Dann antwortete er: „Ich habe doch etwas dagegen getan. Ich habe dich geschaffen.“

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Das letzte Glück

In meiner Nachbarschaft wohnte ein älteres Ehepaar, sie eine unternehmungslustige Frau, mit der ich mich oft über den Gartenzaun hinweg lange unterhielt, er ein zurückgezogener Eigenbrötler, der nie ein Wort über seinen trockenen Gruss hinaus verlor.
Sie starb letztes Jahr und liess ihn allein zurück, ohne Freunde, praktisch ohne soziale Kontakte. Nur eine Familie, mit der schon vorher eine Bekanntschaft bestanden hatte, lud nun den alleinstehenden Mann immer wieder einmal zum Essen ein oder nahm ihn mit auf einen Ausflug. Bis der Eigenbrötler sich ausgerechnet diesen Menschen gegenüber in einer völlig banalen Angelegenheit hinterhältig und gemein verhielt, worauf diese den Kontakt zu ihm abbrachen.
Doch nach ein paar Monaten – nachdem der Zorn und die Enttäuschung verflogen waren und das Mitgefühl für den einsamen Mann wieder die Oberhand gewann – unternahmen sie mit ihm wieder einen Ausflug, an einem sonnigen Tag, in eine landschaftlich reizvolle Gegend. Am Abend bedankte sich der Mann herzlich und sagte, das sei einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen.
In der Nacht verstarb er friedlich.

Wie wichtig manchmal ein Akt der Nächstenliebe sein kann… Verschieben wir ihn nie auf morgen.

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