Nicht am Elend der Welt leiden

Ich halte SMS für ein denkbar schlechtes Medium für ernsthafte, anspruchsvolle Diskussionen. Dennoch habe ich mich neulich hinreissen lassen, mit einem Bekannten in dieser Weise ein kurzes „Gespräch“ zu führen.

Angefangen hatte es ganz harmlos. Er wünschte mir einen guten Tag und schloss mit einem traurig dreinblickenden Emoji.
Also fragte ich ihn – darauf war er zweifellos aus –, ob es ihm nicht gut gehe. Er antwortete: „Nein, natürlich geht es mir nicht gut, wenn ich sehe, wie vielen es derzeit schlecht geht, gesundheitlich wegen Corona und finanziell wegen des Jobverlusts oder geschäftlichen Ruins, ebenfalls wegen Corona.“

Ich ging nur kurz darauf auf ein: „Du hilfst aber niemandem damit, dass du dich schlecht fühlst. Du schadest nur dir selbst.“

Seine Erwiderung: „Doch, das ist genau der Punkt. Wenn ich mich schlecht fühle, verhalte ich mich verantwortungsvoll. Wenn ich mich gut fühle, schere ich mich nicht um die anderen und mache, was ich will.“

An dieser Stelle will ich noch anmerken, dass wir ähnliche Diskussionen früher schon (fruchtlos) geführt hatten und dass er selbst grosse Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus hat, das für ihn als älteren Mann mit verschiedenen Vorerkrankungen bestimmt äusserst gefährlich wäre. Aber: Er hat Angst vor dem Coronavirus, obwohl er – wir Menschen sind ja zuweilen sooooo widersprüchlich! – mit dem Gedanken der Selbsttötung spielt, weil er gesundheitlich schwer angeschlagen ist.

Meine Antwort darauf: „Ein solcher Schluss ist nicht legitim. Weder trifft es zu, dass sich jemand, der wegen des Elends anderer leidet deshalb nicht egoistisch verhält, noch dass jemand, der sich in seiner Haut wohl fühlt, sich nicht um andere kümmert. Wenn du mir unterstellst, dass ich mich rücksichtslos verhalte, nur weil ich aus meiner spirituellen Gesinnung – meinem Urvertrauen – nicht an der Schlechtigkeit der Welt leide und verzweifle, dann tust du mir unrecht.“

Damit beendete ich das Gespräch. Und füge hier nur noch hinzu: Mit-leiden ist sinnlos, mit-fühlen ist wertvoll. Am hilfreichsten für alle ist aber: mit Verantwortung handeln.

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