Askese und Selbstdisziplin

Die Sinneslust muss auf vielen spirituellen Wegen, die seit Jahrtausenden erfolgreich praktiziert werden, radikal bekämpft werden. Das gilt ganz besonders für die Sexualität, aber auch für Essen und Trinken, Besitz und jeglichen Genuss. Die Tradition der Bettelmönche beziehungsweise des Armutsgelübdes war in Ost und West seit jeher weit verbreitet und ist es immer noch.
Askese mag ein Weg zum Göttlichen sein, einer unter vielen. Aber es ist eine alte Lehre und wir dürfen uns schon fragen, ob sie in unserer westlichen Gegenwart für uns alle im Alltag noch praktizierbar ist.
Die Menschheit hat sich entwickelt, es ist ein anderes Zeitalter angebrochen – jedes Zeitalter hatte seine Propheten, die entsprechend dem menschlichen Entwicklungsstand und den äusseren Gegebenheiten das lehrten, was zu ihrer Zeit richtig war. Deshalb ist es nicht sinnvoll, alte heilige Schriften über Jahrtausende in ihrer wörtlichen Form für ewig gültig zu erklären und ihren Geboten „buchstäblich“ zu gehorchen.

Es soll asketisch leben, wer diesen Drang in sich verspürt – dann ist es sein richtiger Weg. Doch Askese als eine für alle gültige Disziplin zu betrachten, wäre engstirnig. Wenn das Göttliche gewollt hätte, dass wir uns in eine Höhle zurückziehen und allem entsagen, hätte Es dann nicht lauter Höhlen erschaffen anstelle dieser wunderschönen Welt mit all ihren Reizen und Freuden?
Vielleicht ist Askese auch bloss der Weg des geringeren Widerstands! Ziehe ich mich nämlich von allem zurück, gehe sinnlichen Genüssen aus dem Weg und lehne sie strikte ab, ist das möglicherweise einfacher, als mit Mass zu geniessen…
Zudem dürfen wir nicht nur die Taten ansehen, sondern sollten auch die Gedanken mit einbeziehen: Wenn ich ein Stück Kuchen ablehne, weil ich Askese üben will, dabei aber immer wieder daran denke und mich danach sehne, so bezeuge ich zwar eine starke Willenskraft im Verzicht, doch ich verschwende eine Menge Energie durch meine ständigen Gedanken an den Kuchen!

Wie weise ist doch die Bhagavad Gita, die schon vor über zwei Jahrtausenden sagte:

Entsagung und Karma Yoga, beide führen zur Rettung der Seele, doch von beiden steht Karma Yoga über der Entsagung.
(V, 2)

Wahrlich, dieser Yoga ist nicht für diejenigen, die zu viel essen oder zu viel schlafen, ebensowenig für diejenigen, die Schlaf und Nahrung aufgeben.
(VI, 16)

Wer die Organe des Handelns zwar beherrscht, aber in Gedanken ständig bei den Sinnesobjekten weilt, solch ein Mensch hat sich selbst getäuscht mit falschen Vorstellungen von Selbstdisziplin.
(III, 6)

Wenn jemand den Sinnesobjekten und den Werken nicht anhaftet und auch in Gedanken auf jegliches Verlangen verzichtet, dann sagt man von ihm, er sei zum Gipfel des Yoga aufgestiegen.
(VI, 4)

Entscheidend ist also nicht, auf alles zu verzichten, sondern den Genüssen nicht verhaftet zu sein: Wir dürfen geniessen, was uns gegeben wird, aber uns nicht danach sehnen oder es vermissen, wenn wir es nicht haben. Denn solange unser Verzicht für uns ein „Opfer“ darstellt, ist er wertlos: Aus Erkenntnis sollen unsere Wünsche sterben – Erkenntnis, dass alles Weltliche nicht so wichtig ist, nur das Eine zählt – und dem daraus erwachsenden Gleichmut, nicht durch erzwungene Unterdrückung.

Selbstverständlich braucht es auf jedem Lebensweg, nicht nur auf dem spirituellen, eine gesunde Portion Selbstdisziplin; diese lässt sich aber in einem Satz beschreiben: Ich tue nichts, was ich als nicht gut erkenne. Das hört sich banal an, aber denken Sie kurz darüber nach, wie oft Sie schon in einer Weise gehandelt haben, von der Sie vorher wussten, dass es „falsch“ ist!
Wir begehen viele „Fehler“ aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit, das geschieht, das ist verständlich – aber in viele laufen wir ganz bewusst und willentlich hinein…

Abschliessend aber noch eine Anmerkung zum „Fehler“, zum „falschen“ Handeln: Es gibt keine Fehler, es gibt nur Erfahrungen. Es gibt keine objektiven Fehler: Was in einer Situation gut ist, kann in einer anderen schlecht sein. Doch jede „richtige“ Tat und jede „falsche“ Tat führt uns zu Erkenntnissen – und das ist das einzige, was zählt.

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